Seine Reaktionen auf meine letzten Mails waren kurz, zu kurz als dass ich mir noch vormachen könnte, er wolle eine Verbindung aufrecht erhalten. Ich weiss nicht, was ich mir erwartet habe - dass auch er über die Jahre nicht von mir lassen kann, dass ich weiterhin eine Rolle in seinem Leben einnehme, eventuell sogar einen Teil seines Lebens besetze, dem er hinterhertrauert (so wie ich es tue). Wie hätte ich das wirklich glauben können, sein Leben, das ein beruflich erfolgreiches ist, er, der seit Jahren eine feste glückliche Beziehung mit einer klugen schönen Frau führt. Und wieso passiert es mir, die ich seit Jahren eine feste glückliche Beziehung führe und mit zwei wunderbaren Kindern beschenkt wurde. Versöhnung.
Und dann der Brief. Vor zwei Tagen überreichte ihn mir der Postbote und ich erkannte die Handschrift sofort. Seither liegt er ungeöffnet -
Das Gefühl der Freude verlängern. Den Inhalt erspüren, alle Möglichkeiten des Inhalts ausloten. Der Brief bekommt unnötig viel Raum und Bedeutung. Wieder werde ich mich selbst enttäuschen, weil ich eben doch wieder überhöhte und unnötige Erwartungen habe. Was ich erwarte? Ein Zeichen, das er ehrlich an mich denkt, an mir interessiert ist, weil wir uns einmal alles bedeutet haben, weil mein Menschsein ihn angeht, meine Gedanken, mein Leben. Eine gute Portion verletzter Stolz ist mit dabei, das muss ich leider vor mir selbst zugeben, verletzter Stolz, dass er mich nicht mehr wollte, auch ein Minderwertigkeitsgefühl, dass ich nicht gut genug für ihn war, Unsicherheit, ob seine Liebe für mich wirklich Liebe war, oder nur seine überraschte Reaktion, dass er eine solche Liebe in einem anderen Menschen auslösen kann. Ich würde ihn gerne einmal fragen, ob er mich wirklich geliebt hat, er, meine Liebe.
Diese Antwort wird nicht in dem Brief stehen. Das, was ich gerne von ihm hören würde, werde ich nicht in dem Brief lesen.
Ich kann meine Versöhnung also fortsetzen, trotz Brief. Der Brief ändert nichts an dem notwendigen Prozess. Meine Versöhnung soll sein: diese Jahre mit ihm waren gut, haben mich nachhaltig geprägt, meine Bedürfnisse und Interessen geformt. Dass er nicht mehr für mich da ist, sollte für mich Herausforderung sein, nicht Niederlage. Die Erinnerung an meine erste grosse Liebe soll mich glücklich machen, nicht trauernd. Sie darf mir nicht mein Jetzt vergiften, sie soll es bereichern und beruhigen. Diese Liebe und dieser Mann sind Teil meines Lebens, ich sollte davon reden können, und es nicht begraben wie einen dunklen schmerzenden Schatz.