Ich setze mich in diesen Monaten ein weiteres Mal intensiv mit Eltern-Kind-Beziehungen auseinander. Erst einige Monate nach der Geburt von meinem Grossen habe ich begonnen, in Frage zu stellen, wovon ich felsenfest überzeugt war, und was auch meine eigene Kindheit auszeichnete: Eltern sind eine Autorität, Kinder gehorchen, Kinder schlafen im eigenen Bett, Eltern wissen was richtig für ihre Kinder ist, Eltern strafen scheinbares Fehlverhalten, Eltern müssen Konsequenz zeigen, Kinder müssen erzogen werden.
Ich bin inzwischen davon überzeugt, dass Kinder nicht erzogen werden müssen. Kinder benötigen die Begleitung ihrer Eltern. Kinder benötigen Vorbilder. Kinder brauchen Eltern, die gleichwürdig und kooperativ mit ihnen umgehen.
Dies verdanke ich zahlreichen Autoren, Psychologen, Soziologen, Ärzten und natürlich Müttern. Jesper Juul, Jean Liedloff, Carlos Gonzalez, Kurt und Karin Kloeters, Adele Faber, Elaine Mazlish, sowie allen Müttern und Vätern von rabeneltern.org.
Gerade heute habe ich Siblings without Rivalry von Faber und Mazlish zu Ende gelesen. Mir liefen die Tränen. Und nicht, weil ich als Mutter mein Versagen und meinen Frust verspürt habe. Nein. Das Kind in mir, die grosse Schwester, der ungelenke, unsichere Teenager in mir, das Mädchen, das immer gefallen wollte, und nie "cool" war: es waren die Tränen dieses Kindes, die heute geflossen sind.
Dass die Beziehung zu meinem "kleinen" Bruder nicht so herzlich ist, wie sie sein könnte, ist mir schon länger aufgefallen. Zwischenzeitlich, vielleicht zwischen meinem zwanzigsten und dreissigsten Lebensjahr, dachte ich, unsere Beziehung wäre positiv und liebevoll.
Als wir Kinder waren, haben wir uns viel gestritten. Und ich habe mich oft durch meinen kleinen Bruder verletzt gefühlt. Als wir Teenager waren, fühlte ich mich immer unterlegen. Er hatte die lustigeren Freunde, machte die spannenderen Sachen, war cooler, war besser gekleidet, war mehr auf Konfrontationskurs mit unseren Eltern, war unabhängiger, interessierter, engagierter.
Heute frage ich mich, ob ich überhaupt je aus der Rolle der verkrampften grossen Schwester herausgefunden habe. Ich habe mich bei dem Gedanken ertappt, dass er sogar der bessere, coolere Vater werden wird, einer, der seine Kinder früher bekommt und daher dynamischer und energievoller sein kann als ich. Inzwischen ist das nicht mehr möglich, denn er ist nun älter, als ich es zum Zeitpunkt der Geburt meines Grossen war. Aber ich erinnere mich beschämt an das Gefühl der Erleichterung, als er mein damaliges Alter (kinderlos) überschritten hatte.
Nun ertappe ich mich bei dem neuen Gedanken, dass er ja vielleicht nie Kinder wollte, und mich "uncool" und spiessig findet, weil ich zu Hause sitze, mit zwei kleinen Kindern, und sonst nichts mache.
Alles wenig schmeichelhaft für mich. Gedanken, derer ich mich schäme.
Aber heute Nachmittag, nach dem Lesen des Buches von Faber und Mazlish, frage ich mich, ob diese Schamgefühle allein meine Schuld sind. Oder ob meine Befangenheit, meine Niedergeschlagenheit nicht auch andere Gründe haben: in der Beziehung zu meinem Bruder. Und zu meinen Eltern.