Bereits drei Mal habe ich den Film Another Year von Mike Leigh gesehen. Ich mag den Film, ich mag die Charaktere, die in dem Film vorgestellt und entwickelt werden, ich mag die Langsamkeit, in der er erzählt wird, ich mag die Beziehung zur Natur.
Aber schon beim ersten Schauen hatte ich, trotz meiner grossen Sympathie für die Charaktere, ein ungutes Gefühl. Wieso können sich Gerri und Tom, die ein sorgenfreies Leben führen und eine erfüllte, liebevolle Beziehung haben, über andere Menschen urteilen und sich ständig im Recht fühlen? Und darf Familie wirklich in diesem Extrem über Freundschaften stehen? Oder ist die Beziehung zwischen Gerri und Mary überhaupt eine Freundschaft? Und wenn nicht, darf Gerri dann so tun als ob, da sie Mary anscheinend garnicht braucht?
Gleichzeitig sass ich voller Bewunderung und Sehnsucht und Verständnis vor dem Leben von Gerri und Tom: Vertrauen, auch nach vielen Jahren Ehe, Humor, gemeinsame und geteilte Leidenschaft, vor allem der Garten, die Natur, der Kreislauf der Jahreszeiten, die ehrliche Arbeit am und im Boden, und die Ernte, die Früchte dieser Arbeit.Gemeinsam kochen und essen, Tee trinken, den Tag beschliessen, lesen, erzählen.
Ich teile viel von diesem Leben in Partnerschaft und Liebe. Ich habe das grosse Glück, in einer glücklichen Beziehung zu leben. Aber ich habe keine Ahnung von der Selbstverständlichkeit, andere Menschen abzuurteilen. Diese Eigenschaft ist mir fast zuwider. Ein Derzeit grosses Thema, da meine Mutter diese Eigenschaft auch hat.
Trotzdem sind mir die Charaktere von Gerri und Tom nicht zuwider. Was ist hier los?
Bei der Lektüre von Wilhelm Schmid Mit sich selbst befreundet sein bin ich auf meine Antwort gestossen.
Tom, aber vor allem Gerri, verkörpern für mich Teile meines "festen inneren Kerns". Das heisst, ich muss sie nicht als Personen begreifen, sondern sie abstrahieren für mich bestimmte Eigenschaften in Strukturen zum Zwecke einer Selbstdefinition.
Zu diesem Zweck müssen die Figuren nicht ausgeglichen und feherbehaftet sein. Nein - sie dürfen in diesem Sinne unnachgiebig sein. Es geht um die innersten Werte, nicht um eine realistische Darstellung eines menschlichen Lebens mit Makeln und Irrtümern. Gerri und Tom leben ihre Werte, und darin finde ich auch einen Ausschnitt der meinen wieder, und im verfolgen dieser Werte sind diese Eckpunkte (m)einer Selbstdefinition unnachgiebig.
Liebe, Familie, Kinder, Vertrauen, Humor, Genuss, Natur, Natürlichkeit, Freude, Freundschaft, Mitgefühl, Arbeit, Hilfe für den Anderen, Heimat, Gelassenheit.